Sunday, August 9, 2009

Mythos Bergier-Kommission




Offener Brief an Ueli Haldimann
Direktor des Schweizer Fernsehens




Sehr geehrter Herr Haldimann,


herzliche Gratulation zu Ihrem sehr überzeugenden und sachlichen Auftritt im „Club“ zur Diskussion um das Réduit.
Als langjähriger (mehr oder weniger) amüsierter israelischer Beobachter der mühsamen schweizerischen Verarbeitung der Nazi-Zeit bekomme ich nochmals Stoff zum Schmunzeln.
Währenddem die meisten Schweizer Historiker früher einen sehr verkrampften Umgang mit den problematischen Beziehungen mit Nazi-Deutschland zeigten, schwang die historiographische Balken-Wippe Ende der 1990er-Jahre in die andere Richtung. Die „neuen“ Historiker zeigen – genau wie die „alten“ – extrem Mühe mit einer differenzierten und sachlichen Geschichtsschreibung. Es wird null Toleranz gegenüber Kritik gezeigt und ausgerechnet Vertreter der „alten“ Schule, wie mein Freund Dr. Jürg Stüssi-Lauterburg, Chef der Militärbibiothek und SVP-Politiker, zeigen mehr Offenheit für kontradiktorische Diskussionen. Dies sage ich als Linker und Friedensaktivist.
Anders als Sie es zu verstehen gegeben haben, kann die Arbeit der Bergier-Kommission (UEK) jedoch weder als sehr professionell, noch als endgültige Fassung – denn eine solche gibt ohnehin nicht – gelten. Bei der UEK-Forschung ist kaum eine klare Linie zu erkennen, und grosse Affären wurden – wahrscheinlich mehrheitlich aus politischen Gründen, aber auch aus fachlicher Überforderung der Zuständigen – entweder völlig ausgeklammert oder beschönigt.
Hier einige Beispiele:
· Die Geschichte darüber, wie Teile der deutschen Gelder zurück aus der Schweiz nach dem Krieg in die BRD flossen, wurde nicht beschrieben. Diese Vermögen dienten zum Aufbau des Geheimdienstes BND, der Bundewehr und offensichtlich zur Finanzierung des CDU-Wahlkampfes von 1953. Es gibt relevante gesperrte Schweizer Akten, zu welchen nur die Bergier-Kommission Zugang gehabt hätte. Trotz meiner wiederholten an die UEK gerichteten dringenden Bitten wurde in dieser Hinsicht nichts unternommen.


· Beim Flüchtlingsbericht wurde die problematische Rolle einiger führender jüdischer Funktionäre ausgeklammert. Diese unterstützten Rothmund bei seiner unmenschlichen und anti-jüdischen Politik. Man kann Rothmunds Handlungen und Person aber nicht verstehen, wenn diese Hilfe bzw. Kollaboration nicht miteinbezogen wird.
Im Juli 2000 wurde ich von der Kommission sogar als Experte eingeladen, um meine Kritik am ersten Flüchtlingsbericht zu äussern. Mein Papier wurde ausführlich diskutiert, ohne dass auch nur ein einziger Punkt darin entschärft wurde. Trotzdem enthielt die UEK-Endfassung keine Korrekturen.



· Wenn man die Schweizer Wirtschaft und Politik als pro-nazistisch darstellt, ist das völlig daneben. Die Mehrheit war sogar – wie das traditionell in der Schweiz war und ist – antideutsch eingestellt. Geschäftet wurde nicht nur mit den Nazis, sondern auch mit den Alliierten, an die auch Kriegsmaterial geliefert wurde. Wenn man dies in Betracht zieht, ist die Schweizer Neutralität als die Summe sämtlicher Beziehungen mit allen Kriegsparteien anzusehen. D.h., unter dem Strich ist es gar nicht so sicher, dass die Nazis bevorzugt wurden.


· Die UBS war recht überrascht, als die Bergier-Kommission die Bank – gegen die sehr ungünstige Aktenlage – im Zusammenhang mit den IG-Farben-Geldern (Interhandel-Affäre) weiss wusch. Die Bank, aber auch das EDA, war auf das Schlimmste gefasst. Denn die Affäre ist auch für die Schweizer Regierung sehr peinlich – und für die US-Regierung ebenfalls.
· Der Interhandel-Fall ist sehr zentral, damit man versteht, wie die Schweiz von den Nazis profitierte. Anders, als das vermittelte Bild, ist das Hauptproblem für den Finanzplatz-Schweiz nicht die jüdischen nachrichtenlosen Vermögen, deren Umfang relativ klein waren, sondern veruntreute „deutsche“ Vermögen (mehrheitlich Raubgüter und nicht nur von Juden) wie von IG Farben, aber auch von verschiedenen SS-Bonzen, die ihre Beute bei Schweizer „Treuhändern“ deponiert hatten und nach dem Krieg von diesen übers Ohr gehauen wurden.


· Mit seltsamem religiösem Eifer wird der Mythos des alt-Polizeihauptmanns Paul Grüninger als angeblicher Judenretter von „Linken“ verteidigt, die den Mythos Réduit anprangern. Eine sachliche Diskussion um die zahlreichen Fragenzeichen um Grüninger ist praktisch unmöglich. Als die „NZZ am Sonntag“ es wagte, meine Recherche über Grüninger positiv zu rezensieren, (s. http://tinyurl.com/mmbfjk) ging die Verleumdung und Schlammschlacht auch gegen diese Zeitung los. Es wurde – ohne jeglichen Beleg – behauptet, dass die meine Befunde bekräftigende Buchbesprechung angeblich die Folge der Verwandtschaft zwischen dem inzwischen verstorbenen ehemaligen Zürcher Stapi, Sigi Widmer, und dem Chef-Redaktor der NZZ am Sonntag, Felix E. Müller, war. Widmer beklagte sich aber geradezu, dass er seinen Schwiegersohn gar nicht beeinflussen könne, und Felix E. Müller kannte mich lange bevor ich Sigi Widmer traf. Und der Rezensent Urs Rauber war schon fünf Jahre zuvor von meiner Untersuchung überzeugt.
Lustiger ist es, dass die SP-nahen Historiker dabei ausgerechnet die Geschichte des ehemaligen SPS-Zentralsekretärs und späteren Nationalrats und Bundesrichters, Werner Stocker, ausklammern. Stocker leistete während 10 Jahren grossartige Hilfe an Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland. Sein Vergehen für die „neuen“ Historiker ist, dass er bzw. seine Witwe behaupteten, das illegale SP-Netzwerk habe Grüninger bestochen und dieser habe nach seiner Entlassung der Rettungsarbeit enormen Schaden zugefügt. Warum die eigene SP-Partei-Geschichte praktisch verleugnet und der wahre Held in Vergessenheit verbannt wird, hat mit einer sauberen sachlichen Recherche nichts zu tun.

Diese Liste liesse sich noch um viele Beispiele erweitern.
Selbstverständlich stehe ich Ihnen gerne jederzeit zur Verfügung, um meine Kritik und Vorwürfe auch zu belegen. Ich freue mich auf ein Treffen mit Ihnen.
Beste Grüsse

Shraga Elam
Israelischer Recherchierjournalist und Träger des australischen Gold Walkley Award for excellent Journalism 2004

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